Jennybox

Die etwas andere Sicht auf die Welt.

Stumm

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Es war der 20. August eines sehr warmen Sommers, als ich, wie jeden Morgen, am Strand spazieren ging. Ich mochte diese frühe Stunde, in der die Sonne langsam hinter dem Meer zum Vorschein kam. Es war so schön ruhig. Hier konnte ich mich entspannen.

An diesem Morgen aber war etwas anders. Ich hatte etwa die halbe Strecke des Weges hinter mir, als ich zum ersten Mal Sandra begegnete. Sie war ein eher unscheinbar, aber sympathisch wirkendes Mädchen von vielleicht 15 Jahren. Ich mochte sie auf Anhieb. Freundlich sprach sie mich an: „Guten Morgen Herr Wiegand, freut mich, Sie mal persönlich kennenzulernen.“ Überrascht erwiderte ich ihren Gruß und fragte sie dann erstaunt: „Wie kommt es, dass du weißt, wer ich bin?“ „Ich habe so ziemlich alle Ihre Bücher verschlungen!“, antwortete sie mir mit einem Lächeln. Nun, ich war Autor von Fantasy-Romanen, aber dass schon ein so junges Mädchen sie kannte, verwunderte mich dann doch. Sie begleitete mich auf meinem restlichen Spaziergang und wir unterhielten uns angeregt weiter über alles Mögliche. Es war erstaunlich, es gab kaum ein Thema, über das wir nicht einer Meinung waren. Obwohl sie so jung war, hatte ich das Gefühl, mit einer gebildeten Frau meines Alters zu sprechen, und ich war bereits fünfunddreißig!

Als wir schließlich wieder an meinem Haus angelangten, trennten wir uns, und sie verschwand. Nachdenklich ging ich die Stufen zu meinem Haus hinauf. Ich hatte es erst vor wenigen Monaten gekauft und meine Frau und ich fühlten uns äußerst wohl hier. Sie war es auch, die mich an der Tür erstaunt begrüßte: „Guten Morgen, Schatz, was war das denn gerade?“ „Wieso fragst du?“ Erstaunt sah ich sie an. „Na ja, ich hab dich mit diesem Mädchen gesehen. Es sah aus, als würdet ihr euch angeregt unterhalten, aber gehört habe ich kein Wort.“, sagte sie irritiert. „Aber es stimmt, wir haben uns sogar sehr angeregt unterhalten“, erklärte ich ihr, und dann erzählte ich ihr, was ich von Sandra erfahren hatte. Sie war eine Waise. Ihre Eltern waren vor zwei Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem lebte sie allein bei einer alten Tante. Über Marinas Worte aber dachte ich nicht näher nach. Am Ende meinte meine Frau Marina: „Bring sie doch mal mit rauf, sie scheint ja ein sehr nettes Mädel zu sein, und …“, und dabei grinste sie schelmisch, „sie scheint dir ja sehr zu gefallen.“ Ich grinste zurück: „Ja, da könntest du Recht haben.“

So kam es, dass ich Sandra von da an jeden Morgen bei meinen Spaziergängen traf und sie oft auch mit nach Hause nahm. Längst hatte ich das Mädel fest ins Herz geschlossen und Marina ebenso. Nach einigen Wochen verband mich eine sehr tiefe Freundschaft mit Sandra. Allerdings hätte ich die Art der Freundschaft nicht erklären können. Ich liebte meine Frau über alles. Kinder hatten wir keine. Aber es waren trotzdem keine väterlichen Gefühle, die ich für sie empfand. Es war auch nichts Sexuelles, dafür wäre sie ohnehin zu jung gewesen. Nein, es war etwas, das viel tiefer ging. Wir verstanden uns oft ohne Worte. Es war eine Art von Liebe, die über jegliches Verlangen hinausging. Ich liebte sie einfach, Punkt.

Etwa zwei Monate später bekamen wir Besuch von einem Freund aus der Stadt. Robert kam uns von Zeit zu Zeit übers Wochenende besuchen. Er hatte während ihres Studiums mit Marina in einer Wohngemeinschaft gelebt, und seitdem waren die beiden gute Freunde und auch ich verstand mich gut mit ihm. Eines Morgens beobachtete er mich mit Sandra und sah mich hinterher verwundert an. „Sag mal, wie macht ihr das?“, fragte er schließlich. Irritiert sah ich ihn an: „Wie machen wir WAS?“ Er holte tief Luft, dann sagte er: „Ihr scheint euch zu unterhalten, aber …“, er schwieg. „Aber was?“, drängte ich. „Aber … ihr redet nicht, man hört kein Wort und aus der Entfernung hätte ich euch problemlos hören müssen.“ Perplex ließ ich mich in den nächsten Sessel fallen und fing an, nachzudenken.

Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Sandra hatte nie wirklich gesprochen! Und erst Robert musste kommen, um uns klarzumachen, dass hier etwas nicht stimmte. Das Ganze ließ mir keine Ruhe, und Sandra direkt fragen, das wollte ich nicht. Ich wollte ihr ja nicht wehtun. Also fuhr ich nach Roberts Abreise zu Sandras Tante. Ich stellte mich ihr als Sandras Freund vor. Sie nickte lächelnd: „Es freut mich, Sie mal persönlich kennenzulernen, Mark, durch Sandra habe ich schon viel von Ihnen erfahren. Sie scheint sehr an Ihnen zu hängen.“ Und was sie mir dann erzählte, haute mich schlichtweg um. Sofie Seidenstein erzählte mir eine Geschichte, die mir kalte Schauer den Rücken herablaufen ließen.

Sandra war bis zu jenem besagten Unfall ein ganz normales, fröhliches, überaus intelligentes Kind gewesen. Sie hatte mit im Unfallwagen gesessen und war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Das Auto war mit einem Laster zusammengestoßen, der Aufprall hatte das Auto eine Böschung heruntergeschleudert. Die Polizei hatte später festgestellt, dass es mehrere Überschläge gegeben haben musste. Sandra hatte überlebt, aber der Unfall und der Tod ihrer Eltern hatte sie so sehr geschockt, dass sie seitdem nicht mehr sprach. Kein einziges Wort war seit jenem schrecklichen Tag mehr über ihre Lippen gekommen.

Ich war erschüttert, als ich das alles hörte. Schließlich, als ich wieder sprechen konnte, fragte ich leise: „Aber wie kommt es, dass Marina und ich sie hören können, wenn sie doch nicht spricht?“ Lange sah mich die rüstige alte Dame sinnend an. Dann sagte sie: „Sandra kann seit ihrem Unfall Gedanken lesen und Menschen, die ihr besonders am Herzen liegen, kann sie die Fähigkeit geben, sie zu verstehen und gedanklich mit ihr zu sprechen.“ Ungläubig sah ich Sandras Tante an: „Sie meinen, wie Telepathie? Wie dieser Mr. Spock bei Star Trek?“ Sofie fing an zu lachen: „Ja, so ungefähr, nur dass Sandra Sie dafür nicht berühren muss.“ Ich schüttelte erstaunt den Kopf. Hätte man mir so etwas noch vor wenigen Wochen erzählt, ich hätte es nicht geglaubt. Aber ich hatte es ja selbst erlebt …

An diesem Nachmittag unterhielt ich mich noch lange mit Tante Sofie, wie ich sie schließlich nennen durfte. Ich erzählte ihr von Robert, und wie wir dadurch erst gemerkt hatten, dass etwas mit Sandra nicht stimmte.

Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Marina und ich sind alt geworden. Auch Sandra ist älter geworden. Unsere Liebe besteht auch heute noch. Niemand hat sie je verstanden. Immer mal wieder hat es Unterstellungen gegeben, wir hätten ein Verhältnis miteinander. Marina, Sandra und ich fangen dann jedes Mal an zu lachen. Wir wissen es ja besser, Marina hatte nie ein Problem mit meiner Beziehung zu Sandra. Sie hat auch nie versucht, diese Beziehung zu erklären. Sie akzeptierte sie einfach und zwischen uns hat sich nie etwas geändert. Unsere Liebe ist noch die gleiche wie damals vor fünfundvierzig Jahren, als wir geheiratet haben. Übrigens konnte Sandra auch über weite Entfernungen gedanklich mit uns in Kontakt bleiben, so wussten wir immer, wie es ihr ging, auch in den Jahren, in denen sie unseren Ort verlassen musste, um zu studieren.

Nur Sandra hat nie einen Partner gefunden. Wir sind mit ihr zu vielen Ärzten und in viele Krankenhäuser gefahren, um ihr endlich ihre Stimme wiederzugeben.

Aber Sandra hat nie wieder ein Wort gesprochen. Immer noch geht sie jeden Morgen mit mir am Strand spazieren, wann immer es die Zeit zulässt, und es ist so schön wie am ersten Tag. Beide lieben wir diese morgendlichen Gespräche. Und wir lieben es, wenn Sand und Wellen unsere Füße umspielen. Ich habe sie einmal gefragt, ob sie denn glücklich sei, da antwortete sie mir frei heraus: „Natürlich bin ich glücklich, mein Lieber, ich hab doch dich und Marina, mehr brauche ich nicht. Ich weiß, dass ihr mich liebt, das reicht mir völlig“. Ich habe sie nie wieder danach gefragt, sondern es einfach so akzeptiert.

Nur ihre Stimme, die hätte ich liebend gerne, und sei es nur einmal, gehört. Aber das war mir nicht vergönnt.

ENDE