Jennybox

Die etwas andere Sicht auf die Welt.

STILLE

(Download als mp3)

Still war es geworden. Unendlich still. Lucy stand schweigend am Fenster und sah in den Regen hinaus. Aber sie hörte – nichts. Kein Prasseln, keinen Straßenlärm – einfach nichts. Seit zehn Jahren war sie jetzt taub. Es war über Nacht passiert. Eines Morgens wachte sie auf und wunderte sich über die schreckliche Stille um sie herum. Erst hatte sie sich gewundert. Glaubte, dass es in ihrer Umgebung so still wäre. Aber als sie dann in die Küche kam und sah, wie ihre Eltern sich unterhielten, sie aber kein Wort hörte, da begriff sie: es war sie, die nichts mehr hörte.

Von einem Arzt zum anderen hatte man sie geschleppt. Hunderte von Untersuchungen hatte sie über sich ergehen lassen müssen, aber es blieb dabei: sie war taub und niemand hatte eine Erklärung dafür. Bitter lächelte sie. Am Abend, bevor das passiert war, hatte sie sich mit ihren Eltern furchtbar gestritten. Ihnen passten ihre Pläne nicht. „Ich will nichts mehr hören, hört ihr, GAR NICHTS MEHR, lasst mich endlich in Ruhe! Es ist MEIN Leben!“, hatte sie sie schließlich angeschrien. Und am nächsten Morgen war es dann still gewesen.

Nach zwei Jahren voller Hoffnungen und Untersuchungen hatte sie schließlich die Tatsachen akzeptiert. Es war nicht mehr zu ändern. Sie war taub, und sie würde es den Rest ihres Lebens bleiben. In einer Uni-Klinik hatten sie schließlich festgestellt, dass ihr Gehör einfach aufgehört hatte zu funktionieren, von einem Moment zum nächsten.

Anfangs hatte sie geschrien, getobt, gefleht, gebettelt, gebetet. Aber nichts hatte geholfen. Schließlich resignierte sie. Fand sich mit ihrem Schicksal ab, und lernte damit zu leben. Nie wieder würde sie den Regen, Straßenlärm, ihre heißgeliebte Musik oder das Meeresrauschen hören. Nie wieder ein liebes Wort, nie wieder ein Flugzeug hören, das in ihr immer wieder die Sehnsucht nach der Ferne geweckt hatte. Keinen einzigen Vogel würde sie mehr singen hören. Kein herzhaftes Lachen mehr. Sie würde es vielleicht sehen, aber sie würde nicht wissen, warum gelacht wurde.

Aber sie würde auch ihr eigenes Weinen nicht mehr hören, nicht ihre streitenden Eltern, nicht die Schimpfworte, die andere ihr an den Kopf knallten, wenn sie wieder einmal zu langsam war. Ja, es hatte alles Vor- und Nachteile. Jetzt, nach zehn Jahren, hatte sie sich damit abgefunden, hatte resigniert. Ihre Welt bestand nur noch aus einer Tastatur und einem Monitor und ab und zu ein paar Handzeichen. Sie hatte gelernt damit zu leben. Heute haderte sie nicht mehr mit ihrem Schicksal. Alles hatte seinen Sinn. Wieder lächelte sie. Aber diesmal war es ein kleines, zufriedenes Lächeln. Sie hatte ihren Platz gefunden, trotz allem.

Und sanft hörte sie in ihren Gedanken die Worte:

Neben jedem bitteren Niemalswieder schwingt der sanfte Ton „Es war einmal …“

ENDE