Ninas Traum (Fortsetzung von Ein Augenblick des Glücks)
Hektisch tippte Nina auf ihrer Tastatur. Es war bereits 17:00 Uhr, sie musste diesen Auftrag heute noch fertigstellen und einkaufen musste sie auch noch! Endlich! Eine halbe Stunde später konnte sie die Datei abspeichern und an ihren Arbeitgeber senden. Geschafft! Schnell fuhr sie ihren Rechner runter, schnappte sich Schlüssel und Portemonnaie und stürmte zur Tür hinaus.
Seit fast zehn Jahren lebte sie nun in diesem großen Haus, dass sie von ihren Eltern geerbt hatte. Dank der Aufträge, die sie über das Internet von verschiedenen Konzernen bekam, verdiente sie genug, um sich den Unterhalt dieses Hauses auch leisten zu können. Es war ein sehr großes Haus und manchmal fühlte sie sich hier sehr einsam. Sie war verschlossen und in sich gekehrt, tat sich sehr schwer damit, Kontakte zu knüpfen. Und so kam es, dass sie keine Freunde hatte. Einerseits litt sie sehr darunter, andererseits traute sie sich aber auch nicht, über ihren eigenen Schatten zu springen.
Schnell hastete sie zum nächsten Supermarkt. Bis zum Ladenschluss blieb ihr nicht mehr sehr viel Zeit und so hetzte sie von einer Abteilung zur nächsten. Knapp eine Stunde später verließ sie den Supermarkt wieder, bepackt mit mindestens vier Taschen. Sie atmete auf. Es war knapp geworden, aber sie hatte es gerade noch geschafft. Skeptisch sah sie zum Himmel auf. Eine dunkle Wolkenwand zog auf. Würde sie noch rechtzeitig nach Hause kommen? Schnell machte sie sich auf den Weg. In ihrer Eile übersah sie einen Stein, der mitten auf dem Bürgersteig lag. Als sie ihn wahrnahm, war es bereits zu spät. Sie versuchte noch, ihr Gleichgewicht zu halten und sich abzufangen, aber mitsamt den Taschen klappte das nicht.
Sie sah sich schon quer über dem Bürgersteig liegen, als sie plötzlich spürte, wie zwei Hände sie im letzten Moment packten und festhielten. Verdutzt sah sie hoch. Vor ihr stand ein freundlich lächelnder Mann: »Hoppla, das war aber knapp!«, lächelte er. »D-d-danke«, stotterte sie. Dann sah sie ihn genauer an und war sprachlos. Dieses Gesicht, diese Augen hätte sie überall auf der Welt sofort wiedererkannt! Es war der Mann aus DEM Traum. Der Traum, der sie all die Jahre nicht losgelassen hatte! Sie erinnerte sich so deutlich an jenen Traum, als hätte sie ihn erst gestern geträumt. Jener Traum, der sie bis ins Innerste erschüttert hatte, der eine Sehnsucht in ihr geweckt hatte, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Und genau jener Mann aus dem Traum hatte sie vor dem sicheren Sturz bewahrt.
Während sie noch etwas weggetreten da stand, hatte er bereits ihre Taschen eingesammelt und sagte: »Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.« Nina lächelte unsicher und erwiderte langsam: »Ja… vielleicht habe ich das.« Dann aber gab sie sich einen Ruck und lächelte den Fremden freundlich an: »Noch einmal vielen Dank für Ihre Hilfe, ohne Sie läge ich wohl jetzt am Boden.« »Keine Ursache, freut mich, dass ich helfen konnte. Aber sagen Sie, Sie sehen aus, als könnten Sie mit den ganzen Taschen ein wenig Hilfe brauchen. Haben Sie einen weiten Weg?«, fragte er freundlich und fügte hinzu, ihr die Hand hinhaltend: »Mein Name ist übrigens Marcio Rodriguez.« Nina stutzte. Das konnte doch nicht wahr sein! Sie musste träumen. Eisern riss sie sich zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen und antwortete: »Nina Palacios, freut mich sehr Sie kennenzulernen. «Und ja, ich hab tatsächlich noch eine gute Strecke vor mir und da der Regen bald hier sein dürfte, würde ich mich über ein wenig Hilfe freuen.», sprach sie weiter. Sie staunte über sich selbst. Das war sonst nicht ihre Art, aber diesen Mann empfand sie nicht als Fremden.
Gemeinsam gingen beide schnellen Schrittes durch die Straßen zu Ninas Haus. Und es war seltsam, obwohl sie sich gerade mal wenige Minuten kannten, waren sie im Handumdrehen in ein angeregtes Gespräch vertieft. Es war fast, als würden sie sich schon ewig kennen. Schließlich kamen sie bei ihrem Haus an und weil beide das Gespräch nicht einfach abbrechen mochten, begleitete Marcio sie ins Haus und half ihr, die Einkäufe zu verstauen. Längst waren sie, ohne es zu merken, zum vertrauten «Du» übergegangen.
Stunden später saßen sie immer noch zusammen. Erst am späten Abend machte Marcio sich schließlich auf den Heimweg. Es stellte sich heraus, dass er gar nicht so weit weg wohnte. Aber bevor er ging, sah er Nina mit einem seltsamen Blick an und fragte: «Eines wüsste ich doch noch gerne, wenn ich darf.. warum hast du mich vorhin so entgeistert angesehen? So.. ja.. so als hättest du wirklich einen Geist vor dir.» Nina lächelte schief. «Das ist eine sehr seltsame Geschichte», begann sie. «Aber du wolltest ja eigentlich gehen», fügte sie schelmisch hinzu. «Nix da, dat will ich jetzt wissen!» grinste Marcio zurück. «Aaalso gut…i-i-ich hab dich da auf der Straße nicht zum ersten Mal gesehen.», sagte sie dann langsam und vorsichtig. Ein verblüfftes «WAS???» entglitt seinen Lippen. Irgendwie ahnte er, was jetzt kommen würde. «Ja», fuhr Nina leise fort. «Ich habe vor vielen Jahren einen sehr seltsamen Traum gehabt. Dieser Traum war so detailliert, als wäre es nicht nur ein Traum, sondern tatsächlich Teil meiner Erinnerung. Ich konnte ihn nie vergessen. Und in diesem Traum warst du der beste Freund, den ich hatte.» Marcio schluckte. «Ich fass es nicht. Aber wie kann das sein? Wir sind uns doch vorher nie begegnet, oder?» Er ließ sich wieder in den Sessel sinken, das musste er erst einmal verdauen. Dann flüsterte er: «Auch ich habe von dir geträumt, allerdings kann ich mich an den eigentlich Traum nicht erinnern, nur du bist mir klar und deutlich im Gedächtnis geblieben.» Nina lächelte, stand auf, trat auf Marcio zu und ergriff seine Hand: «Marcio, es ist eigentlich nicht meine Art, so offen zu sprechen, aber es scheint, als hätte das Schicksal gewollt, dass wir einander begegnen.» Marcio nickte. Dann stand er auf. «Trotzdem sollte ich jetzt gehen», sagte er lächelnd. «Aber ich verspreche dir, ich komme wieder.» Dann ging er.
In den nächsten Wochen trafen sie sich fast jeden Tag. Die stille, in sich gekehrte Nina blühte regelrecht auf. Nur eine Frage quälte sie immer wieder. Wenn es ihn tatsächlich gab. Wer waren dann seine Partnerin aus dem Traum und der kleine Junge? Gab es sie dann auch? Aber sie wagte es nicht, Marcio danach zu fragen. Die Einzelheiten des Traums hatte sie ihm nie erzählt und so ahnte er nichts von ihren Nöten. Nina hatte Angst, Angst, diesen Mann wieder zu verlieren. Denn eines gestand sie sich mittlerweile ein: sie hatte sich in Marcio verliebt. Es würde ihr das Herz brechen, würde er wieder aus ihrem Leben verschwinden.
Es war ein wunderschöner Tag im Juli. Die Sonne brannte vom Himmel. Nina hatte gerade keine Aufträge und ein wenig Zeit zum Bummeln. In den letzten Tagen hatte Marcio sich etwas rar gemacht. Warum, wusste sie nicht. Wieder einmal schnürte ihr die Angst vor erneuter Einsamkeit die Kehle zu. Immer noch wusste sie nicht, wie sie ihr Verhältnis eigentlich einordnen sollte. Sie verstanden sich super, unternahmen viel miteinander, führten stundenlang endlose Gespräche. Aber was Marcio wirklich für sie empfand, wusste sie nicht. Sie selber würde sich eher die Zunge abbeißen, als ihm gegenüber einzugestehen, dass sie ihn über alles liebte.
Plötzlich hörte sie ein helles Lachen und sah in die Richtung, aus der das Lachen kam. Da sah sie Marcio. Aber er war nicht allein! Er hatte einen Jungen an der Hand und neben ihm stand eine junge Frau. Nina blieb stocksteif stehen. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Sie fröstelte trotz der Hitze. Eiseskälte hielt sie gefangen. Die Frau und der Junge waren die beiden aus ihrem Traum! War Marcio etwa gebunden und hatte ihr nur nie etwas davon gesagt. Nina schluckte. Völlig kopflos ging sie weiter, sie merkte nicht, dass sie gefährlich nahe am Straßenrand entlangging. Als sie beim Überqueren der Straße fast überfahren worden wäre und der Autofahrer wütend hupte, sah Marcio in ihre Richtung. Er sah in ihr Gesicht und selbst aus der Ferne konnte er erkennen, was in ihr vorging. Schnell schob er den Jungen zu seiner Mutter hinüber, entschuldigte sich kurz und rannte dann zu Nina hinüber. Nina aber sah ihn kommen und drehte sich panisch um und rannte in die entgegengesetzte Richtung. Als sie fast den Stadtpark erreicht hatte, holte er sie ein. «Nina, warte doch! Ich kann dir alles erklären!», rief er. Nina blieb mit Tränen in den Augen stehen. Sie unterdrückte den Fluchtreflex. Ihr wurde bewusst, dass sie vor der Wahrheit nicht davonlaufen konnte.
Dann hatte er sie eingeholt. Er sah sie an und in diesen Blick legte er alles, was er ihr nie gesagt hatte. Seine ganze Liebe lag in diesem einen Blick. Dann ergriff er ihre Hände. «Nina», begann er leise. «Ich weiß, was du jetzt denkst, aber so ist es nicht.» «Ach nein?», schluchzte Nina, und wer ist diese Frau, wenn nicht deine Frau? Auch sie und der Junge waren in meinem Traum«, fuhr sie dann weinend fort. Marcio schluckte: »Oh Nina, meinst du nicht, dass ich es dir längst gesagt hätte, wenn ich gebunden wäre? Diese Frau da«, und mit diesen Worten nahm er sanft ihr Kinn in seine Hände, »heißt Anna und war einmal vor sehr vielen Jahren für kurze Zeit meine Partnerin. Heute sind wir nur sehr gute Freunde. Sie ist mittlerweile verheiratet und der Knirps da ist ihr Sohn, dessen Patenonkel ich bin.« Nina sah Marcio in die Augen »Marcio..ich…« stotterte sie. Er sah Hoffnung in ihren Augen aufkeimen. Ohne ein weiteres Wort zog er Nina in seine Arme: »Mädel, Mädel, du bist ja eifersüchtig«, sagte er lächelnd und fuhr dann, wieder ernst werdend fort: »Ja weißt du denn nicht, dass ich dich liebe Nina?« Mit großen Augen sah Nina Marcio an. »Ist das wirklich wahr?!«, flüsterte sie. Innerlich jubelte sie. Marcio nickte nur. Zog sie wieder ganz fest an sich, hob ihren Kopf sanft zu sich empor und küsste sie. Für lange Zeit vergaßen beide die Welt um sich herum. Erst als als um sie herum plötzlich immer lauter werdender Applaus ertönte, fanden sie in die Wirklichkeit zurück. Beide lächelten verschämt. Dann gingen sie Arm in Arm zu Anna und ihrem Sohn hinüber. »Tja Silvio«, sagte Marcio, sich zu dem Jungen hinunterbeugend, »Das hier wird bald deine neue Tante werden.« Nina strahlte.
In dem großen Haus, in dem Nina einst so einsam gewesen war, kehrte nun Leben ein. Und das sollte für immer so bleiben.
ENDE