Ein Augenblick des Glücks
Erschrocken stand ich im Wohnzimmer meiner Freunde Anna und Marcio, die ich, wie immer, einmal im Jahr besuchte, und hörte meine Freunde in der Küche streiten. Sie stritten so laut, dass ich fast jedes Wort verstehen konnte. So hatte ich sie noch nie streiten hören. Sie stritten meinetwegen. Ich schluckte. Was sollte ich nun tun? Sollte ich mich da einmischen? In diesem Moment stürmte Anna aus der Küche zur Haustür hinaus und verschwand. Kurz darauf kam Marcio, den kleinen, dreijährigen Silvio auf dem Arm, mit eiligen Schritten ins Wohnzimmer, drückte mir den Kleinen in die Arme und sagte nur: „Kümmere du dich um ihn!“ Dann stürmte auch er zur Haustür hinaus.
Mit dem Jungen auf dem Arm trat ich ans Fenster und sah verstört auf die Straße hinunter. In diesem Moment tauchte er auf der Straße auf, ging zu seinem silberfarbenem BMW, stieg ein und brauste in die Nacht davon.
Ratlos stand ich da. In diesem Moment begann Silvio zu weinen. Der Kleine hatte natürlich keine Ahnung, was gerade geschehen war. So beschloss ich, meine Grübeleien erst einmal zurückzustellen und dafür zu sorgen, dass er sich wieder beruhigte. Leise redete ich auf ihn ein und versuchte ihn abzulenken. Glücklicherweise kannte er mich gut genug und vertraute mir. Schließlich versiegten die Tränen und er legte sein Köpfchen auf meine Schulter. Da sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits nach 21.00 Uhr war. Schnell brachte ich den Kleinen ins Bett und las ihm so lange vor, bis er schließlich eingeschlafen war.
Dann ging ich in die Küche und räumte das Abendbrot weg. Und nun waren sie wieder da, die Grübeleien. Hätte ich vielleicht diesmal nicht kommen sollen? Ich wusste ja, dass es bereits vorher zu Spannungen zwischen den beiden gekommen war, nur Genaues darüber wusste ich nicht. Als alles weggeräumt war, kehrte ich schließlich ins Wohnzimmer zurück, holte mir ein Buch aus dem Bücherregal und setzte mich in eine Ecke der gemütlichen Couch. Aber so wirklich gelang es mir nicht, mich darauf zu konzentrieren. Nachdem ich dieselbe Seite dreimal gelesen hatte, gab ich schließlich auf und versuchte zu schlafen.
Ich erwachte, als die Haustür ins Schloss fiel. Ich sah auf und stellte fest, dass es draußen bereits hell war. In diesem Moment traten Anna und Marcio ins Zimmer. Beide sahen sehr zerknirscht aus. Langsam stand ich auf und sagte: „Ich schätze, nach allem, was ich gestern mitbekommen habe, ist es wohl besser, ich gehe.“ Ich war gerade an der Tür angekommen, da hielt mich Anna am Arm zurück. „Nein Nina, bleib hier!“ Überrascht drehte ich mich um. „A-a-aber … “, stotterte ich. „Kein Aber“, sagte jetzt auch Marcio sanft. Er trat auf mich zu und legte mir den Arm um die Schultern. „Du kannst doch am allerwenigstens was für unseren Streit, du bleibst hier.“ Ich sah von einem zum anderen. „Na gut … wenn ihr meint …“, hauchte ich.
Später, nachdem sich die beiden davon überzeugt hatten, dass Silvio noch schlief und sie sich etwas ausgeruht hatten, während ich mich um das Frühstück kümmerte, saßen wir alle drei friedlich am Tisch. Nach dem Frühstück schließlich nahm ich allen Mut zusammen, trat zu Marcio, der immer noch am Tisch saß, legte meinen Kopf seitlich auf seinem, legte meine Arme locker um seinen Hals und fragte leise: „Worum genau ging es eigentlich? Was ist gestern geschehen?“ Marcio ergriff meine Hände, drückte sie und sagte: „Eigentlich hast du ein Recht, es zu erfahren, schließlich gehörst du zu uns.“, dabei sah er Anna an, die zustimmend nickte und mir über den Arm strich. „Aber da ich im Moment noch nicht so ganz nüchtern bin, muss ich vorher etwas erledigen.“, sagte er dann, während er sich erhob. Überrascht sah ich ihn an. Er nickte mir nur zu: „Ja, ich habe während des Streits, nachdem ich Anna gefunden hatte, etwas getrunken.“ „Aha“, sagte ich nur. Es stand mir nicht zu, das weiter zu kommentieren. Ich wusste ja, dass er sonst nie Alkohol trank. Umso neugieriger war ich. Er schnappte sich also Anna und trat mit ihr auf die Terrasse hinaus, die sich an die Küche anschloss. Von drinnen konnte ich sehen, wie er Anna in den Arm nahm und küsste. Ich sah schnell wieder weg. Denn obwohl ich das schon oft gesehen hatte, versetzte es mir jedes Mal wieder einen Stich. Nur wollte ich über meine Gefühle jetzt am allerwenigsten nachdenken.
Als die beiden wieder hereinkamen, nahm Marcio mich beim Arm und führte mich ins Wohnzimmer. Wir setzten uns und er erzählte mir in allen Einzelheiten, worüber er und Anna sich gestritten hatten. Er gab auch zu, dass Anna mich durchschaut hatte und von meinen Gefühlen wusste. Er aber hatte ihr alles erklären können und sie hatte das akzeptiert. Ich schluckte. Sah ihn mit Tränen in den Augen an. „Was soll ich tun? Soll ich aus eurem Leben versachwinden?“, schluchzte ich. Er zog mich sachte an sich und sagte dann sanft: „Nein, Nina, du bist und bleibst unsere Freundin. Anna hat hegriffen, dass du längst etwas unternommen hättest, wenn du wirklich die Absicht gehabt hättest, unsere Beziehung zu zerstören.“ In diesem Moment trat Anna auf mich zu und nahm mich in die Arme. Sie entschuldigte sich für ihr Misstrauen. Ich war erleichtert. Alles war wieder gut.
Viele Jahre vergingen.
Wieder einnal, wie auch in all den Jahren zuvor, war ich bei den Rodriguez. Aber diesmal war etwas anders. Ich fand Marcio auf einer Bank vor seinem Haus sitzen und setzte mich zu ihm. „Wo sind Anna und Silvio?“, fragte ich überrascht. Er lächelte. „Anna ist gegangen, sie kommt nicht zurück und Silvio ist bei Freunden.“
Und dann erzählte er mir, was in den letzten Monaten geschehen war, in denen ich nichts von ihnen gehört hatte. Er sprach von der Trennung, von seinem Schmerz, davon, wie Silvio alles aufgenommen hatte. Während er redete, legte ich sanft meine Arme um seine Schultern, um ihn zu trösten. Es tat mir in der Seele weh, ihn so zu sehen. Er war, genau wie ich, alt geworden in den vielen Jahren, die wir uns nun schon kannten. Als er geendet hatte, schwiegen wir beide lange. Dann plötzlich beugte er sich vor und berührte ganz sanft meine Lippen mit den seinen. Überrascht erwiderte ich den Kuss. Während er mich in seine Arme schloss, wurde sein Kuss intensiver, fordernder. Ich ließ mich fallen und war zum ersten Mal in meinem Leben überglücklich.
Ich erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen. Draußen schien bereits die Sonne hell am Himmel. Ich schluckte. Langsam fand ich wieder in die Realität zurück. Ich sah an mir hinunter und stellte fest, ich war wieder jung und nichts hatte sich geändert. Alles war nur ein wunderschöner Traum. Ich war immer noch einsam und allein. Und so würde es auch immer bleiben. Immer noch in den Eindrücken des Traums gefangen, starrte ich hinaus in den Garten. In dem riesigen Haus wirkte ich wie verloren.
ENDE