Ein aufschlussreiches Gespräch
An einem wunderschönen Novembernachmittag trafen sich zwei Freunde wie an jedem Tag zu einem kleinen Plausch. Sie kannten sich schon eine Ewigkeit und dieser tägliche Spaziergang war ihnen zur lieben Gewohnheit geworden.
„Hallo Roland, wie geht es dir heute?“, begrüßte Jan fröhlich seinen Freund. „Danke, ging mir nie besser. Und dir?”, antwortete dieser ebenso fröhlich. „Ach, na ja, du kennst das ja, es ist immer das Gleiche.”, sagte Jan. Langsam schritten die beiden den breiten Weg in Richtung Wald entlang.
Das Wetter war kühl, aber erträglich. „Sag mal, Jan, wie kommt es eigentlich, dass wir Menschen uns so schnell an etwas gewöhnen?“ „Warum fragst du?“, wollte Roland wissen. „Überleg’ doch mal, wir treffen uns schon so lange, immer zur gleichen Stunde, jeden Tag, egal ob es regnet oder schneit. Ohne unsere Spaziergänge würde mir echt was fehlen“, sinnierte Jan. Eine Weile dachte Roland nach. So gingen sie schweigend weiter. Dann aber meinte er: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er braucht etwas nur lange genug zu machen, und schon ist es Routine geworden.“ „Aber warum ist das so?“ Roland blieb stehen, sah Jan an und sagte grinsend: „Das menschliche Gehirn ist wie ein Computerprogramm, es lässt sich schnell umschreiben, und wie man das macht, das dürftest du ja noch wissen, schließlich hast du früher mit Computern dein Geld verdient.“ Verdutzt sah Jan zu Roland hinüber. Lange Zeit sagte er erst einmal gar nichts mehr. Dann aber: „Willst du damit sagen, Menschen sind konditionierbar? Ist dann das menschliche Gehirn nichts weiter als ein Wirrwarr an von seiner Umgebung geschaffenen Schaltkreisen? Das kann ich nicht glauben!“ „So drastisch würde ich das vielleicht nicht formulieren, aber im Prinzip, sehr vereinfacht ausgedrückt, … ja, könnte man so sagen“, erwiderte Roland.
Kopfschüttelnd und grübelnd ging Jan weiter. Roland folgte ihm. Minutenlang herrschte wieder Stille. Dann seufzte Jan müde, und sagte: „Aber dann waren ja alle meine Bestrebungen, mein Leben einigermaßen in den Griff zu kriegen, völlig sinnlos.“ „Wieso denn das?“, fragte ihn Roland. „Wenn doch alles von außen festgelegt wird, was kann ich dann schon noch tun?“ „Nun“, erklärte ihm Roland, „wie sehr du dich von deinen Mitmenschen beeinflussen lässt, das hängt von dir ab. Hast du einen festen Charakter, und hast du gewisse Prinzipien, dann kann deine Umwelt nur wenig ändern. Obwohl, einiges wird dann immer noch von außen bestimmt, davon merkst du nichts, weil das in deinem Unterbewussten passiert.“ „Gilt das auch für meine Partnerwahl oder für die Art und Weise, wie ich meine Kinder erziehe?“, wollte Jan wissen. „Bis zu einem gewissen Grad ja. Aber ich denke nicht, dass da jemand einen Fehler gemacht hat, denn deine Frau ist wirklich bezaubernd“, sagte Roland mit einem Lächeln.
Immer weiter schritten die beiden auf den nahen Wald zu. Um in den Wald zu kommen, mussten sie über einen am Waldrand gelegenen Friedhof gehen. Für beide war dies kein Problem. Es war ein sehr alter Friedhof. Uralte, wunderschöne Marmorsteine zierten die Gräber. Es war so ruhig und friedlich hier. Wie magisch wurden sie von diesem Ort der Stille angezogen. Schließlich erreichten sie den Friedhof und öffneten das knarrende Tor, gingen an vielen Reihen von zum Teil verwahrlosten Gräbern entlang. „Stimmt.“, seufzte Jan, „sie ist wunderschön! Uns verbinden 20 glückliche Jahre. Mit unseren beiden Kindern hatten wir es nicht immer leicht, aber nie gab es Probleme, die nicht irgendwie zu lösen waren. Aber trotzdem, wenn ich mir vorstelle, dass unser Zusammentreffen von unserer Umwelt bestimmt wurde …“.
Inzwischen waren sie im hinteren, ältesten Teil des Friedhofs angekommen. „Aber dann …“, sagte Jan, auf ihre Grabsteine weisend, „… war auch das hier kein Zufall!“ Roland grinste ihn an und sie gingen weiter, durch das hintere Tor, in den Wald hinein. Auf den Grabsteinen, auf die Jan gewiesen hatte, stand:
Jan Schmidt und Roland Günther
1965 - 2006 1820 - 1900
ENDE