Jennybox

Die etwas andere Sicht auf die Welt.

Die Eremitin

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Noch einmal sah Anja zurück auf das große, sechsstöckige Gebäude, in dem sich im dritten Stock ihre Wohnung befunden hatte. Dann stieg sie entschlossen in ihren blauen Golf, knallte die Tür zu, startete den Wagen und brauste davon. Endlich frei! Endlich raus aus dieser Stadt, die ihr nur Kummer und Leid gebracht hatte. Über zwanzig Jahre hatte sie hier gelebt, unter mindestens einer Million Menschen und trotzdem einsam. Deshalb verließ sie diese Stadt nun auch. Sie hatte endgültig genug. Die Menschen hatten sie bitter enttäuscht. Und endlich hatte sie den Mut aufgebracht, alle Brücken hinter sich abzubrechen und in die Einsamkeit zu ziehen. Denn wenn ich mich sowieso schon unter all den Menschen so einsam fühle, dann kann ich doch auch gleich in die Einsamkeit ziehen, das macht dann doch keinen Unterschied, dachte sie.

Sie war eine erfolgreiche Schriftstellerin, und konnte sich deshalb den Luxus leisten, zu leben, wo und wie sie wollte. Ihr letzes Buch „Eisiger Wind“, das sie unter dem Pseudonym Mirja Brandt herausgebracht hatte, war eingeschlagen, wie eine Bombe. Es hatte sich millionenfach verkauft und sie hatte ausgesorgt. Die Verlage rissen sich um sie, aber sie wollte nicht mehr. Sie war immer bescheiden geblieben, hatte sich immer im Hintergrund gehalten. Nie hatte sie sich zu Lesungen oder Talkshowbesuchen überreden lassen. Jedes Kind kannte Mirja Brandt, aber die zurückhaltende, stille Anja kannte niemand.

Und so hatte sie ihre Eigentumswohnung und alles, was sie nicht unmittelbar brauchte, verkauft und sich ein kleines Häuschen tief im Wald gekauft. Sie hatte es durch Zufall im Urlaub bei einem Spaziergang entdeckt. Die Abgeschiedenheit und die riesengroßen, alten Bäume ringsum hatten sie sofort fasziniert. Hier würde sie sich wohlfühlen, da war sie sicher.

Nach vierstündiger Autofahrt hatte sie schließlich ihr Ziel erreicht. Die letzten fünfzig Kilometer hatte sie sehr vorsichtig fahren müssen, da der Weg sehr schmal war und selten befahren wurde. Es wurde schon dunkel, als sie endlich die Tür zu ihrem neuen Zuhause aufschloss. Müde, wie sie war, beschloss sie, ihr Auto erst am folgenden Tag leerzuräumen, schließlich hatte sie Zeit und hier in der Wildnis würde sie wohl kaum jemand bestehlen. Wer denn? Hier gab es sonst niemanden.

Am nächsten Morgen weckte sie fröhliches Vogelgezwitscher. Gut gelaunt stand sie auf und holte erst einmal ihre Habseligkeiten aus dem Auto. Dann machte sie es sich in der altmodisch eingerichteten Küche an dem großen Küchentisch aus hellem Holz bequem und nahm ihr mitgebrachtes Frühstück zu sich. Nach dem Essen stellte sie erst einmal eine Einkaufsliste zusammen, denn zum Einkaufen musste sie in das etwa sechzig Kilometer entfernte Dorf fahren und da konnte sie es sich nicht leisten, etwas zu vergessen.

Die Dorfbewohner sahen der freundlichen, aber irgendwie seltsamen Frau zweifelnd hinterher, die so viel eingekauft hatte, dass es bestimmt für vier Wochen reichen würde. Was wollte so eine hier in der Einsamkeit? Das würde die garantiert nicht lange aushalten!

Aber sie blieb. Und langsam lebte sie sich in ihrer neuen Umgebung ein. Die Dorfbewohner gewöhnten sich daran, dass die Eremitin, wie man sie bald nannte, einmal im Monat zum Einkaufen kam und dann wieder verschwand. Sie war nie unfreundlich, aber sie sagte auch kein Wort zu viel. Das gefiel den Leuten hier.

Nur nach ihrem ersten Einkauf war sie erst einmal zwei Monate im Wald geblieben. Hatte ausgedehnte Spaziergänge gemacht. Und je länger sie sich unter diesem Bäumen aufhielt, desto ruhiger wurde sie. Das Rauschen der Wälder legte sich wie Balsam auf ihre Seele. Der Schmerz ließ langsam nach, alte Wunden fingen an, endlich zu heilen. Hier endlich fand sie ihren Frieden wieder. Hier draußen endlich akzeptierte sie ihre Vergangenheit als das was sie war: vergangen. Auf einem ihrer Spaziergänge fand sie zufällig einen kleinen, entkräfteten Hund, ein Schäferhundwelpe, dem sie den Namen Fips gab, ihn liebevoll aufpäppelte und der von da an ihr ständiger Begleiter wurde.

So vergingen fünfzehn Jahre. Anja wohnte immer noch in ihrem geliebten Wald. Nie hatte sie die Entscheidung bereut. Natürlich hatte sie im Dorf Zeitungen gesehen und so wusste sie, dass man fieberhaft nach ihr gesucht hatte. Aber Mirja Brandt blieb verschwunden. Irgendwann legte sich der Wirbel. Sie geriet in Vergessenheit und darüber war sie froh.

Wieder einmal machte sie ihren obligatorischen, täglichen Spaziergang. Sie vermisste den alten Fips immer noch, aber er war vor einiger Zeit an Altersschwäche gestorben. Wie oft in letzter Zeit, dachte sie an ihre Vergangenheit zurück. Aber das tat sie jetzt ohne Bitterkeit. Es tat auch nicht mehr weh. Was mag wohl aus ihnen allen geworden sein?, fragte sie sich sinnend. War es richtig, dass ich damals einfach verschwunden bin? Hätte ich vielleicht…? Aber solche Gedanken waren müßig, das wusste sie. In diesem Moment hörte sie ein Geräusch, das irgendwie nicht in diese Idylle passen wollte. Es knackte, so als würde jemand auf einen Ast treten. Und dann sah sie ihn. Ein großer braunhaariger Mann mit schmalen Schultern kam langsam auf sie zu. Als er näher kam, erkannte sie ihn, überall auf der Welt hätte sie diesen Mann sofort wiedererkannt!

Sie schluckte hart. Es war Max, der Max den sie einst über alles geliebt hatte, derselbe Max, dem sie ihre Gefühle aber nie offenbart hatte. Er war ein guter Freund gewesen und sie hatte ihn nicht verlieren wollen. Die Umstände hatten dann doch dazu geführt, dass sie den Kontakt zu ihm verloren hatte. Sie hatten schlicht und einfach beide keine Zeit mehr füreinander gehabt. Und so war ihre Freundschaft eingeschlafen. Jetzt stand er vor ihr, in dieser Wildnis, wo sie mit allem gerechnet hätte, aber nicht damit.

„Guten Tag, können Sie mir bitte helfen? Ich bin mit dem Auto liegengeblieben“, sprach Max Rohde die seltsame Frau an, die da plötzlich vor ihm stand. Im ersten Moment war er sehr überrascht, dann aber fiel ihm ein, was er im Dorf über die Eremitin gehört hatte. Eigentlich hatte er sich nur ein bisschen in der Gegend umsehen wollen, aber dann hatte sein Wagen schlapp gemacht und er saß in der Klemme. „Was ist denn passiert?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage. Ihr stockte der Atem. War es wirklich möglich, dass er sie nicht erkannte?

Max sah die Frau seltsam an. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Aber das war doch eigentlich unmöglich! Er konnte sie nie gesehen haben … oder vielleicht doch?

„Nun ja, sieht wohl so aus, dass ich den Motor abgewürgt habe und ihn nun nicht mehr anbekomme. Ich fürchte, ich brauche einen Abschleppwagen oder so etwas Ähnliches.“, antwortete er. „Na, dann kommen Sie mal mit. Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich habe hier zwar kein Telefon, aber ich kann Sie später ins Dorf fahren, wenn Sie das möchten.“, sagte sie freundlich. Ihr war sehr bang ums Herz. Was mach ich jetzt? Soll ich ihm sagen, wer ich bin, oder soll ich einfach so tun, als hätte ich ihn nicht erkannt und ihn einfach wieder gehen lassen? Nein! Das kann ich nicht! Er hat immer noch dieses süße Lächeln … All das ging ihr in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf.

Langsam gingen beide zum Haus zurück. Max dachte nach. Es wollte ihm einfch nicht einfallen, wo er diese Frau schon einmal gesehen hatte. Dann plötzlich dämmerte es ihm: Anja! Konnte das wirklich sein? Seine Anja? Seine beste Freundin, die er sträflich vernachlässigt hatte und die dann plötzlich verschwunden war? Monatelang hatte er nach ihr gesucht. Aber er hatte nichts herausfinden können, nur, dass sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte. Und das Schlimmste war: er wusste noch nicht einmal warum. Aber wie kam sie hierher? Er musste es wissen.

Abrupt blieb Max stehen und sah die Frau sinnend an. Anja bekam ganz weiche Knie. Hat er etwas gemerkt? Dann sprach er leise, wie tastend: „Anja, bist du das etwa wirklich?“ Anja schluckte und mit tränenerstickter Stimme antwortete sie: „Ja, Max, ich bin es wirklich.“ Da breitete Max wortlos die Arme aus und Anja ließ sich weinend hineinfallen. Lange standen sie so da. Dann löste Anja sich von ihrer einstigen großen Liebe. „Ich hätte nie gedacht, dass du mich hier findest.“, sprach sie dann. Max sah sie staunend an. „Anja, Anja, wie kommst du bloß hierher? Ich habe schon befürchtet, dich nie wiederzusehen!“, sprach er stotternd. „Ich musste weg, Max, ich konnte nicht anders. Der Rummel wurde mir zu viel und … und … ach egal, jedenfalls hab ich eines Tages beschlossen, dass es besser für mich wäre, wenn ich verschwinden würde. Dass es für alle besser wäre.“ Max sah seine langjährige Freundin missbilligend an. „Was redest du denn da für einen Quatsch? Wieso musstest du verschwinden? Ich hab dich monatelang verzweifelt gesucht, weißt du das eigentlich?“

Inzwischen waren sie ins Haus getreten und hatten bald jeder eine Tasse vor sich stehen. Langsam stand Anja vom Tisch auf. Was mach ich jetzt? Ich kann ihm doch unmöglich die Wahrheit sagen. Verdammt, er sieht immer noch so aus wie früher. Und ja, ich liebe ihn immer noch. Dabei war ich mir doch so sicher, ich hätte das endlich hinter mir gelassen. Um vom Thema abzulenken, fragte sie: „Wie geht’s deiner Familie? Hast du mittlerweile Kinder?“ Max lächelte traurig: „Wir sind seit 5 Jahren geschieden. Kinder hat es nie gegeben, nein.“ Anja stockte der Atem. Max ist frei? Kann das wahr sein? Bekomme ich etwa doch noch eine Chance?

„Lass uns ein wenig spazieren gehen Max“, bat sie leise. Er stimmte zu. Unterwegs begann sie dann zu erzählen. Von ihren Zweifeln, von ihrer grenzenlosen Einsamkeit. Von dem Gefühl, eigentlich überflüssig zu sein. Und zum Schluss, ganz leise, sprach sie von ihrer Liebe. Von ihrer Liebe zu einem Mann, den sie nicht haben durfte. Max hörte ihr zu. Er war erschüttert. Wie wenig er doch gewusst hatte! „Ach Anja, warum hast du mir nie etwas davon erzählt? Du wusstest doch, dass du mit allem hättest zu nir kommen können, oder?“, sagte er dann leise. Anja sah ihn lange an. „Hätte ich das? Wie denn? Du hattest doch schon längst keine Zeit mehr für mich. Du hattest selber Sorgen und Probleme genug. Warum sollte ich dich auch noch mit meinem Kummer belasten?“ „Aber wofür hat man denn Freunde, wenn nicht dafür?“, fragte Max. Sie sahen sich an. In diesem Moment begriff Max, dass sie ihn gemeint hatte. Er war der Mann, von dem sie sprach, und dann wurde ihm plötzlich auch klar, dass er Anja schon immer geliebt hatte. Nicht nur wie eine Freundin, oh nein, sondern wie die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Er schluckte. Da war er jahrelang der großen Liebe hinterhergejagt und dabei hätte er nur die Hand ausstrecken müssen. Genau das tat er dann auch. „Oh Anja“, flüsterte er, „warum nur war ich so blind? Ich liebe dich doch, habe dich immer geliebt und es nicht einmal gemerkt.“ Anja lächelte ihn an, dann schmiegte sie sich in seine Arme. „Max, ist das wirklich wahr? Kann es wirklkch wahr sein, dass meine Liebe endlich, endlich ihr Ziel gefunden hat? Jetzt auf einmal?“

Und dann verschloss er ihren Mund mit einem langem Kuss. Das Auto war vergessen. Es sollte noch Tage dauern, bis beide ins Dorf fuhren, um es abschleppen zu lassen. Mirja Brandt aber blieb für immer verschwunden.

ENDE