Rätsel um Oma Nelly 2 – Ein sinnloses Leben
Mit Einkaufstaschen beladen betrat Nelly Winter den Hausflur. Draußen regnete es in Strömen und sie war entsprechend durchnässt. Aber irgendwie schien sie das nicht zu stören. Kurz stellte sie ihre Taschen ab und öffnete dann ihren Briefkasten. Wieder nichts, wie sie es erwartet hatte.
»Hallo, Frau Winter, bei diesem Wetter waren Sie einkaufen?«, begrüßte sie ihre Nachbarin aus dem Erdgeschoss. »Na ja, bleibt mir ja nichts anderes übrig, wenn der Kühlschrank leer ist.«, erwiderte sie freundlich. Dann ging sie die Treppen in den dritten Stock hoch, schloss ihre Wohnungstür auf und ließ ihre Taschen erleichtert im Flur auf den Boden sinken. Sie schloss die Tür hinter sich und sank dann erst einmal erleichtert auf einen Stuhl in ihrer kleinen Küche. Endlich zu Hause! Was für ein Sauwetter!
Nachdem sie sich einige Minuten ausgeruht hatte, begann sie ihre Einkäufe zu verstauen. Danach ging sie in ihr kleines, aber gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer und sah auf ihren Anrufbeantworter - Nichts, wie immer. Schließlich setzte sie sich an ihren Computer, startete ihn und als er endlich hochgefahren war, öffnete sie ihr Mailprogramm, um Mails abzurufen.
Aber da kamen keine Mails und zum xten Mal fragte sie sich, warum sie das eigentlich noch machte. Sie wusste doch, dass nichts mehr kommen würde. Sie schloss das Programm wieder und sah dann lange traurig auf ihren Messenger. Mittlerweile war ihre Kontaktliste, die einmal voller Leben gewesen war, leer.
Was war geschehen? Das fragte sie sich immer und immer wieder. Was hatte sie falsch gemacht? Zwei Jahre lag ihre Scheidung nun zurück und seitdem ging es nur noch bergab. Am Anfang waren es nur ein oder zwei Freunde gewesen, die sich ab und zu mal längere Zeit nicht gemeldet hatten. Aber dann wurden die Abstände größer. Zuerst hatte sie gewartet … und gewartet … und hin und wieder einmal war auch jemand da gewesen, mit dem sie hatte reden können. Aber dann schliefen auch die letzten Kontakte ein. Niemand kam mehr. Sie hörte auf zu warten. Nelly war allein.
Nelly fing an, sich einzuigeln. Sie hatte versucht, den Kontakt zu ihren Freunden nicht zu verlieren. Aber irgendwann hatte sie aufgegeben. Und nun hatte sie nur noch ihre Erinnerungen, ihre Bücher und den Fernseher.
Traurig machte sie schließlich den Computer wieder aus, schnappte sich ihr Lieblingsbuch und setzte sich in ihre Sofaecke. Nein, unglücklich war Nelly nicht, sie hatte ja zum Leben alles, was sie brauchte, nur ihre Freunde und ein Mann, der sie liebte, das fehlte ihr sehr. Sie hielt ihr Leben für sinnlos, nutzlos. Niemand brauchte sie.
Sie hatte erst wenige Zeilen gelesen, als sie spürte, dass sie nicht allein im Zimmer war, was eigentlich völlig ausgeschlossen war. Sie sah von ihrem Buch auf und zuckte zurück! Neben ihr saß ein gut aussehender, in einen schicken, weißen Anzug und schwarzer Krawatte gekleideter Mann mittleren Alters und sah sie mit gütigen Augen an.
»Hallo, Nelly, glaubst du das wirklich?«, fragte er leise. Erstaunt sah sie ihn an. »Was?«, fragte sie irritiert. »Nun, dass dein Leben sinnlos ist.«, erwiderte er geduldig. »Ja.«, sagte sie leise. »Und warum?«, wollte er von ihr wissen. »Nun, wenn Sie hier so ohne Türen zu benutzen, auftauchen können, dann dürften Sie wissen, dass es niemanden gibt, für den es eine Rolle spielt, ob es mich nun gibt, oder nicht. Kinder habe ich keine, für die ich sorgen müsste, einen sinnvollen Job hab ich auch nicht. Alle sind besser dran ohne mich. Niemand braucht mich. Ich bin doch nur eine Belastung für alle. Sonst hätten sich ja wohl kaum langsam aber sicher alle verzogen.«, sagte sie traurig.
Behutsam ergriff er ihre Hand: »Oh Nelly, du magst davon überzeugt sein, was du da sagst, aber glücklich bist du damit nicht, oder?«, fragte er vorsichtig. Nelly schüttelte den Kopf. »Glück? Was ist schon Glück?«, fragte sie nur. »Was ist denn Glück für dich, Nelly?«, fragte er. Einen Moment lang dachte sie nach, dann sah sie diesen seltsamen Mann fest an und sprach: »Ich weiß zwar nicht, warum und wozu ich Ihnen das erzähle … aber na gut. Glück bedeutet für mich, gebraucht zu werden, dass da jemand ist, der mich vermisst, wenn ich nicht da bin, keine Belastung mehr für andere zu sein und andere zum Lachen zu bringen.« Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: „Und lieben zu dürfen.“
»Wenn das so ist, dann komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen.«, sprach er, erhob sich vom Sofa und streckte ihr dabei seine Hand hin. Nelly ergriff sie. Aus einem Grund, den sie selbst nicht ganz begreifen konnte, vertraute sie diesem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Im nächsten Augenblick standen beide vor einer kleinen Hütte. Etwas weiter hinten sah Nelly weitere Häuser und erkannte, dass es ein kleines Dorf war. Fragend sah sie den Mann neben sich an.
»Du wolltest ein sinnvolles Leben und du wirst es bekommen.«, sprach er freundlich. »Du befindest dich hier in der Vergangenheit des Menschen, den du am meisten liebst.« Der Mann zeigte auf ein kleines Mädchen und fuhr dann fort: »Dieses Mädchen dort ist seine Urururgroßmutter. Sie lebt in sehr ärmlichen Verhältnissen, ihre Eltern müssen hart für das bisschen Geld arbeiten, dass sie verdienen und haben wenig Zeit für die Kleine. Damit seine Zukunft so behütet und glücklich verlaufen kann, wie es im Moment der Fall ist, musst du dich um die Kleine kümmern. Und damit dass nicht so auffällt, wirst du dich um alle Kinder des Dorfes kümmern.« Er legte Nelly die Hände auf die Schultern und fuhr fort: »Du wirst für sie Tante Nelly und später Oma Nelly sein. Sie werden dich von Herzen lieben, aber bedenke eines: du befindest dich in der Vergangenheit. Du darfst niemandem erzählen, wo du eigentlich herkommst. Du wirst aus deiner Vergangenheit ein Geheimnis machen müssen und das wird dich so manches Mal einsam machen, bist du dazu bereit?« Ernst und eindringlich sah er sie an. Sie nickte. »Wenn es ihm sein Leben erhält und ich so vielen Kindern eine schöne Kindheit bieten kann, dann bin ich dazu bereit.«, sprach sie leise, aber entschlossen.
Der Fremde nickte: »Also gut, so sei es denn, in etwa 50 Jahren wirst du von mir wieder abgeholt werden und man wird das dann für deinen natürlichen Tod halten. Du wirst dich nicht an mich erinnern, aber du wirst wissen, dass es richtig ist, zu gehen. Und nun - leb wohl, Nelly, und hab ein schönes Leben!“ Nelly sah diesen so unverhofft in ihrem Leben aufgetauchten Mann lange dankbar an und sagte nur leise: „Danke, wer immer Sie sein mögen.« Dann ging sie mit schnellen Schritten auf das Haus zu.
Im Jahre 2015 wurde die Akte „Nelly Winter“ als unaufklärbar geschlossen. Das einzige, was man herausfinden konnte, war, dass Nelly Winter am 17. Oktober 2014 spurlos verschwand. Einen Mord konnte man nicht ganz ausschließen, aber eine Leiche wurde nie gefunden. Ihre Wohnung wurde schließlich nach einem Jahr aufgelöst.
Nelly Winter kehrte nie zurück.
ENDE
Jenny Rößler Juli 2009