Jennybox

Die etwas andere Sicht auf die Welt.

Rätsel um Oma Nelly 1 - Begegnung am Stadtrand

Strahlend schien die Sonne auf eine einsame Hütte am Stadtrand. Eine alte Frau saß vor dem Haus in ihrem kleinen Garten und sinnierte vor sich hin. Alle kannten diese seltsame Frau, aber viel wusste man nicht über sie. Noch nie hatte man davon gehört, dass sie Familie gehabt hätte. Irgendwann vor 50 Jahren war sie in das kleine Städtchen gezogen. Niemand wusste, woher sie kam. Mehrere Generationen von Kindern gingen bei ihr ein und aus. Immer, wenn Not am Mann war und kein Kindermädchen weit und breit, dann hieß es: „Tante Nelly macht das schon!“

Dann wurden die Kinder erwachsen… und plötzlich wurde aus Tante Nelly Oma Nelly. Und dabei blieb es dann. Oma Nelly war immer zur Stelle. Immer wieder gingen die Kinder nach der Schule bei Oma Nelly vorbei, denn Oma Nelly hatte immer ein paar tröstende Worte, wenn der Schultag mal nicht so optimal gelaufen war, Oma Nelly hatte immer ein paar Leckereien im Haus.

Nur Ostern und Weihnachten war Oma Nelly allein. Besuch von auswärts bekam sie nie. Freunde hatte nie jemand bei ihr gesehen. Diejenigen, die sich noch an die Zeit erinnern konnten, als Oma Nelly an den Stadtrand zog, sagten, sie habe damals sehr traurig ausgesehen. Man spekulierte, sie käme aus Übersee, sei gescheitert. Andere sagten, sie wäre mal verheiratet gewesen, aber was Genaues wusste keiner.

Und so saß Oma Nelly jeden Nachmittag in Ihrem Garten. Oma Nelly träumte. Sie träumte von früher. Dachte an die schönen Stunden in ihrem Leben. Es war so lange her! Aber so richtig glücklich gewesen war sie nie. Das wusste Oma Nelly ganz genau. Sie liebte die vielen Kinder, die zu ihr kamen abgöttisch, aber eigene hatte sie nie gehabt. Das war ihr nie vergönnt gewesen. Ihre Familie war irgendwann mal ausgewandert und hatte sie allein zurück gelassen. Weh getan hatte das, oh ja! Aber sie hatte sich damit arrangiert. Sie war hierher gezogen und hatte ein neues Leben begonnen. Von ihrem früheren Leben hatte sie nie erzählt. Warum auch? Warum hätte sie andere mit ihren Erlebnissen belasten sollen? Nein, sie hatte gelernt, ihren Schmerz und ihren Kummer für sich zu behalten. Und so war es bis heute geblieben. Nein, ein schlechtes Leben hatte sie nicht gehabt. Sie hatte geliebt, sie hatte verloren, sie hatte gelernt zu vergessen und sie hatte die vielen Kinder, die sie erst Tante und dann Oma nannten. Nur „Mama“ hatte eben niemand zu ihr gesagt. Lange hatte das weh getan. Aber dann war auch das vorbei gewesen.

Alles vergeht irgendwann!, dachte sie, während sie in ihrem Schaukelstuhl im Garten saß. Plötzlich stand ein Mann vor ihr. Erstaunt sah sie auf. „Ja hallo, wo kommen Sie denn her und was wünschen Sie?“, fragte sie überrascht. „Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen, Nelly“, sprach er freundlich. „Wie? Sie kennen meinen Namen?“ „Ja, Nelly, natürlich kenne ich ihn. Ich weiß alles über dich“. „Oh!“, machte sie erstaunt. „Also das hat hier noch keiner geschafft!“, sprach sie nach einer kurzen Pause weiter. „Ja, du hast ja alles getan, damit das so bleibt.“, erwiderte er. „Warum sollte ich auch andere durch meine Erzählungen beunruhigen?“, sprach sie leise, wie verloren. „Sie hätten es ja doch nicht verstanden und es hätte ihnen Angst gemacht.“ „Ich weiß, Nelly, aber nun ist es vorbei. Du hast genug gelitten, komm!“ Er streckte die Hand aus, Nelly erhob sich und ergriff sie. „Dann wollen wir mal“, waren ihre letzten Worte.

Am nächsten Morgen fand man die fast 100-jährige Frau tot in ihrem Garten. Sie hatte ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie richtig glücklich. Die Zukunft hatte sie wieder.

ENDE

Juni 2009